Sonntag, Dezember 04, 2005

Ein langer Samstag im Advent

rustend ließ er sich auf eine dieser harten Holzbänke fallen, die gerade soviel Bequemlichkeit gewährten, um sich kurz darauf auszuruhen. Ein tiefer Seufzer begleitete das Abladen der Pakete und Taschen, derer er sich nun nach und nach zu entledigen begann. Er rieb sich die schmerzende Hand, an der die Schnüre, die die Pakete zusammenhielten, tiefe Striemen hinterlassen hatten.

Die heißen Rhytmen, die an sein Ohr drangen, vermischten sich mit dem Geräusch des geschäftigen Treibens und den
Tönen eines Weihnachtsliedes, das aus einer anderen Richtung herüberklang, zu einer einzigen unddurchdringlichen Masse,die seinen Kopf dumpf und taub werden ließen. Vor ihm plätscherte ungerührt ein Brunnen. Angestrengte Gesichter, in denen sich die Farben der Neonreklamen matt spiegelten, eilten an ihm vorbei. Tausende Gedanken jagten durch seinen Kopf und ließen ihn aus seiner kurzen Rast keinen Bruchteil an Erholung schöpfen.

Gerade als er sich anschickte, sich seinem Schicksal zu ergeben, um noch den Rest der Geschenke, die man von ihm erwartete, zu erbeuten, wurde er einer weiblichen Gestalt gewahr, die plötzlich vor ihm am Boden saß und ihm denRücken zuwandte. Er wußte nicht, wo diese hergekommen war und hatte sie auch zuvor nicht wahrgenommen, und doch fühlte er sich sofort in einen süßen Zauber eingewoben.

Langsam wandte Sie ihm Ihr Antlitz zu. Dichte blauschwarze Locken umrahmten ein Lächeln, das imstande war, allen Kummer dieser Welt vergessen zu lassen, und welches mit sanften Schwingen sein Herz berührte.

Aber noch tiefer als in das Lächeln, verlor er sich in die grundlos tiefen Augen dieser himmlischen Gestalt. Ihm war als ob diese Augen jeden Winkel seines Inneren durchfluteten und mit Licht erfüllten. Da schien es ihm plötzlich, als ob eine bisher verschlossene Tür in ihm geöffnet wurde - und durch diese Tür entwichen all der Druck und die Sorgen die ihn noch vor wenigen Sekunden vollkommen in ihrer Gewalt hatten. Wie kühler Balsam begann etwas, von sanfter Hand gelenkt, seinen Rücken emporzusteigen, sammelte sich über seinen Scheitel wie geschmolzenes Eis und begann von dort als lebendiges Wasser gleichmäßig durch ihn hinab zufließen. Mit einem Mal hatte er das Gefühl, als ob sein Körper von tausenden haarfeinen Kanälen durchzogen wäre, die allesamt plötzlich zu atmen begannen, um mit frischem Wind alle Zellenseines Körpers zu beleben. Während er wie von einer unsichtbaren Wolke emporgetragen wurde, wich jegliche Schwere seines Körpers von ihm. Seine Gedanken, die vorher noch wie das aufgewühlte Meer tosten, begannen sich gleichermaßen zu beruhigen, bis er sich gewahr wurde, daß in seinem Inneren nur mehr Stille herrschte - eine klare tiefe Stille, die all seine Sinne nach innen sog. Unantastbar verschmolz sein Wesen mit diesem Raum ohne Zeit und Ende, der sich in ihm auftat. Unermeßlich war die Weite dieses Raumes und er wußte, daß diese Grenzenlosigkeit in der er sich auflöste, er selbst war.

So saß er da, verloren in der Wonne, die ihn erfüllte und hätte niemals mehr sagen können, ob es Sekunden, Stunden oder Tage waren, die er so innehielt und dem lauschte, was ihm sein Innerstes erzählte.

Irgendwann, nach irgendeiner Zeit schlug er dann die Augen auf und sah sich in derselben Umgebung, die er von vorher kannte. Seine Blicke suchen die göttliche Erscheinung nicht, denn er wußte, daß diese wieder verschwunden sein würde, doch tat es ihm nicht leid, weil er das Geschenk der Segensspenderin noch in sich spürte, und er wußte auch, daß er es für immer in sich tragen würde. Er erkannte auch wohl, daß er nicht mehr derselbe war wie zuvor. Freude durchströmte ihn, wenn er an das süße Geheimnis dachte, daß er jetzt in sich trug. Ein wenig traurig war er nur, weil er es ja niemanden erzählen konnte um damit sein Glück und seine Gewißheit mit anderen zu teilen - sie würden ihn nicht verstehen und ihm keinen Glauben
schenken.

Langsam erhob er sich und von seinen lächelnden Lippen kam kein Wort.

aus "Der Hauch Gottes" von Wolfgang Hackl